Selbstverständnis

Bis heute ist die historische Erfahrung der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland und die Auseinandersetzungen mit diesen Verbrechen prägend für das Selbstverständnis von Gesellschaften weltweit. Völkerrechtliche Normen wie die Genozidkonvention, Verfassungsnormen wie der Grundsatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und vieles andere lassen sich auf diese Erfahrung zurückführen. Sie hat Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften, politische Theorie und Moralphilosophie wesentlich mit geprägt. Sie beeinflusst bis heute viele Diskurse in nahezu allen Bereichen unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens. Insbesondere betrifft sie das Verständnis dessen, was man Moral nennt.

Das Verhältnis von Moral und Nationalsozialismus wird das Schwerpunktthema unseres Forschungsnetzwerks bilden, in dem unter anderem SoziologInnen, HistorikerInnen, KulturwissenschaftlerInnen, JuristInnen und PhilosophInnen miteinander diskutieren sollen. Ziel des Netzwerks ist die Erforschung, Beschreibung und Analyse nationalsozialistischer Moralvorstellungen und die gründliche Auseinandersetzung mit diesen Vorstellungen. Diese Auseinandersetzung betrifft sowohl die historische Erforschung nationalsozialistischer Moralvorstellungen in der Geschichte und Wirkung der nationalsozialistischen Verbrechen als auch deren Fortwirkungen in der Gegenwart. Genauer sind also zwei Forschungsfelder zu unterscheiden.

Moral und Nationalsozialismus

Erstens geht es um die Geschichte von Moral und Moralphilosophie in Deutschland im Verhältnis zum Nationalsozialismus. Hier geht es um Fragen wie: Wie kann man die maßgeblichen ethischen moralischen Vorstellungen von Nationalsozialisten beschreiben? Was ist ihre Struktur? Wie haben sich diese Vorstellungen entwickelt? Welche Rolle spielt hier die Moralphilosophie, bzw. die Geschichte der Ethik in Deutschland? Welche Bedeutung hatten sie für die Vorbereitung, Durchführung und Rechtfertigung der Verbrechen? Wie ist das Verhältnis zwischen Recht und Moral in diesen Vorstellungen? Wieweit wirkten diese Vorstellungen noch in Deutschland nach der Niederschlagung des NS weiter? Wie veränderte sich dieses Bewußtsein im Verlauf der Geschichte des zweigeteilten Deutschlands? Wie ist das Verhältnis von Erinnerungskultur und moralischer Auseinandersetzung?

Philosophie und Nationalsozialismus

Zweitens geht es um das Genre des Nationalsozialismus in Philosophie, Denken und Fühlen in systematischer Hinsicht. Mit der der historischen Bewegung des Nationalsozialismus, seiner Partei und Organisationen ist ein Genre politischen Denkens und Fühlens entstanden, das auch losgelöst von den historischen Formationen übernommen werden kann. Mal mehr, mal weniger marginal, wird diese Form des Denkens und politischen Handelns weiter tradiert. In der Arbeit und Diskussion des Netzwerks soll es auch die Gestalt dieses Genres gehen, die Frage, wie es verändert oder gebrochen bzw. disseminiert werden kann.

Aufgaben

Die primäre Aufgabe des Netzwerkes ist es, den Austausch zwischen Forschenden zu den oben genannten Fragen anzuregen. Dieser Austausch soll so interdisziplinär und international wie möglich stattfinden. Dazu sollen im Netzwerk geeignete Diskussionsformate entwickelt werden. Gegenwärtig ist eine Konferenz vorgesehen, die mindestens einmal jährlich stattfinden wird. Das Netzwerk unterstützt ferner die Ergebnisse von Forschung und Diskussion in geeigneter Form zu veröffentlichen. Damit wird die philosophische Erkenntnis des Verhältnisses von Nationalsozialismus, Moral und Philosophie erweitert.

Perspektivisch zielt das Netzwerk darauf, das Verhältnis von Nationalsozialismus, Moral und Philosophie stärker als Querschnittsthema in der philosophischen Forschung zu etablieren und in der Lehre zu verankern. Dazu will es Materialien und Hilfestellungen erarbeiten.